Bedeutung gesundheitlicher Selbsthilfe in Deutschland

Von bescheidenen Anfängen hat sich die gesundheitsbezogene Selbsthilfe in Deutschland zu einem zentralen zivilgesellschaftlichen Akteur entwickelt, anerkannt von Politik, Krankenkassen und Industrie. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums sind rund 3,4 Millionen Bundesbürger:innen in der Selbsthilfe bürgerschaftlich engagiert. Auch verfügt die Selbsthilfe über eine ausdifferenzierte Infrastruktur, bestehend aus eher lokal tätigen Selbsthilfegruppen, regional und bundesweit tätigen Selbsthilfevereinigungen (Verbänden) sowie Selbsthilfekontaktstellen als Unterstützungseinrichtungen. Hierbei handelt es sich mehrheitlich um gemeinnützige Einrichtungen/Nonprofit-Organisationen (NPOs), die in den Rechtsformen des e.V., einer Stiftung oder einer gGmbH geführt werden. Gesundheitsbezogene Selbsthilfe ist daher Zivilgesellschaft pur und zentraler Akteur des deutschen Nonprofit-Sektors.

Lange Zeit vernachlässigt, hat sich die Forschung in den letzten Jahren verstärkt den Organisationen des Nonprofit-Sektors angenommen und diese im Hinblick auf ihre gesellschaftliche, politische wie wirtschaftliche Relevanz in den Blick genommen. Hierbei zeigte sich, dass der Sektor und seine NPOs auf eine beachtenswerte Erfolgsgeschichte in punkto Größenwachstum wie politische und gesellschaftliche Bedeutung zurückblicken können. Ein besonderes Charakteristikum des Nonprofit-Sektors in Deutschland ist die enge Zusammenarbeit mit öffentlichen Stellen und seine z.T. direkte Einbeziehung in die Politikgestaltung.

All dies trifft selbstverständlich in hohem Maße auch für die gesundheitsbezogene Selbsthilfe zu. Das Gründungsgeschehen der Gruppen und Vereinigungen entwickelte sich dynamisch; der Aufbau der Kontaktstellen wurde staatlicherseits unterstützt; die Krankenkassen sind gesetzlich zur Förderung der Selbsthilfe verpflichtet; Vertreter:innen der Selbsthilfe sind mit beratender Stimme im Gemeinsamen Bundesausschuss als zentrales Koordinierungsgremium und vorklärende Instanz der Gesundheitspolitik in Deutschland vertreten.

Wandel: Die fetten Jahre sind vorbei

Leider wird international wie auch auf Deutschland bezogen von der Zivilgesellschafts- und Nonprofit-Forschung inzwischen konstatiert: Die fetten Jahre sind vorbei! Infolge veränderter Kontextbedingungen, und zwar sowohl „von unten“ aufgrund tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen als auch „von oben“ durch Kostendruck und zurückgehendes Vertrauen der Politik in den Sektor, geraten Nonprofit-Organisationen und Zivilgesellschaft zunehmend unter Druck. Aktuell sehen sie sich mit gravierenden Herausforderungen konfrontiert, wozu zählen: die Schwierigkeit, Ehrenamtliche für Leitungspositionen zu gewinnen, den Generationenwechsel zu managen, die Next Generation anzusprechen und bei der Stange zu halten, die Digitalisierung zu bewerkstelligen, mit dem Aufwuchs an bürokratischen Anforderungen zurechtzukommen, die Ressourcen nachhaltig zu sichern und die Interessenvertretung gleichermaßen effektiv wie bürgernah zu gestalten.

Es ist davon auszugehen, dass auch die Selbsthilfe mit diesen Herausforderungen umzugehen hat, mit denen sich Zivilgesellschaft und Nonprofit-Organisationen derzeit konfrontiert sehen. Inwiefern dies der Fall ist und wie die Selbsthilfe als Verbund von lokalen Gruppen, regionalen und bundesweiten Vereinigungen sowie Unterstützungseinrichtungen darauf reagiert, ist Thema des Forschungsprojektes:

Selbsthilfe im Veränderungsprozess?

Es handelt sich um eine Kooperation der Krokids-Stiftung mit der Universität Münster, der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum und des Kindernetzwerks. Das Projektteam besteht aus: Dina Schewtschenko (Universität Münster), Marie Jolie Wimmer (Krokids-Stiftung), Dr. Christian Fröhlich (Krokids-Stiftung), Prof. Dr. Susanne von Hehl (FH Bochum) und Prof. em. Dr. Annette Zimmer (Universität Münster/Krokids-Stiftung).

Untersucht werden u.a. die Fragestellungen:

– Wie reagiert die Selbsthilfe auf Veränderungen des Engagements?
– Wie wird die Rekrutierung ehrenamtlicher Leistungsträger gemanagt?
– Wie geht die Selbsthilfe mit den gestiegenen Erwartungen um?
– Wie sichert die Selbsthilfe ihre Ressourcen bei zunehmender Konkurrenz?
– Wie stellt sich die Selbsthilfe auf die Digitalisierung und wachsende Relevanz des Internets ein?
– Und wie gestaltet die Selbsthilfe ihre Interessenvertretung und ihr Lobbying?

Diese Fragestellungen werden untersucht unter Bezugnahme auf verschiedene Forschungsansätze, und zwar:

– Forschung zu bürgerschaftlichem Engagement,
– Verbände- und Lobbyforschung,
– Organisationsbezogene Nonprofit-Forschung.

Dabei kommt ein Mixed-Method-Design zu Anwendung, das neben einer umfassenden Analyse der Literatur (State of the Art), eine quantitative Untersuchung in Form eines repräsentativen Samples der Selbsthilfegruppen und Selbsthilfevereinigungen (Survey) sowie eine qualitative Analyse eines Samples ausgewählter Selbsthilfevereinigungen (Case Studies) vorsieht. Die Zielsetzung der quantitativen Untersuchung besteht darin, einen aktuellen Überblick über die Selbsthilfe, sozusagen ein Portrait der gesundheitsbezogenen Selbsthilfe in Zahlen, zu erarbeiten. Die qualitative Analyse eines Samples ausgewählter Selbsthilfevereinigungen dient dazu, einen tieferen Einblick in die Probleme der Organisationen, aber auch der von ihnen entwickelten Lösungsansätze zu gewinnen. Ferner liegt ein besonderer Fokus des Projekts auf der Untersuchung der Instrumente, Formen und Adressaten der Interessenvertretung der Selbsthilfevereinigungen. Der Betrachtung der familienbezogenen Selbsthilfe (Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit Behinderungen und chronischen Erkrankungen) kommt im Rahmen der Studie ein besonderer Stellwert zu, da es sich hierbei um eine spezifische Form von Selbsthilfe handelt.

Das Team

Dina Schewtschenko
Universität Münster

Prof. Dr. Susanne von Hehl
FH Rheinland-Westf.-Lippe

Prof. em. Dr. Annette Zimmer
Krokids

Marie Wimmer
Krokids

Dr. Christian Fröhlich
Krokids

Mit der Projektarbeit wurde begonnen. Der Literaturbericht ist in Arbeit und kurz vor dem Abschluss. Kontaktaufnahmen zu Selbsthilfevereinigungen und Unterstützungseinrichtungen sind erfolgt und erste Interviews wurden bereits durchgeführt. In den nächsten Monaten wird die Ansprache der Gruppen und Vereinigungen intensiviert werden. Ferner ist geplant, einen Projektbeirat bestehend aus Vertreter:innen ausgewählter Selbsthilfevereinigungen und Unterstützungseinrichtungen einzurichten.

Das Projektteam ist auf eine rege Teilnahme am Forschungsvorhaben angewiesen und freut sich auf Ihr Interesse und die Bereitschaft, sich zu beteiligen. Die Ergebnisse des Projektes werden dazu beitragen, Selbsthilfegruppen und Vereinigungen praxisrelevantes Wissen zur Verfügung zu stellen sowie die Selbsthilfe als Teil einer aktiven und demokratischen Zivilgesellschaft wieder stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken.

Hintergrundinformation:

Prof. Dr. A. Zimmer: Selbsthilfe auf Veränderungskurs? Vortrag auf der Jahrestagung des Kindernetzwerkes in Göttingen am 20.09.2025

Selbsthilfe im Veränderungsprozess